Das Jahr 2021 hielt für Arbeitgeber und den Umgang mit Bescheinigungen über die Arbeitsunfähigkeit („AU-Bescheinigung“) wieder die eine oder andere Überraschung bereit. Einige gerichtliche Entscheidungen werden nachstehend kurz besprochen und sollen in der täglichen Arbeitspraxis für Personaler für das nötige rechtliche Bauchgefühl sorgen. Das BAG hat sich im vergangenen Jahr sogar dazu hinreißen lassen, dem Beweiswert der AU-Bescheinigung einmal einer näheren Beurteilung zu unterziehen. Die höchstarbeitsgerichtliche Entscheidung traf bei Arbeitgebenden zur Abwechslung einmal auf Zustimmung, da es sich um ein unseres Erachtens praxisgerechtes Ergebnis handelte. Allerdings haben sich auch die Instanzengerichte mit dem Thema AU-Bescheinigung in verschiedensten Konstellationen auseinandergesetzt. So hat das Arbeitsgericht (ArbG) Berlin beispielsweise über den Beweiswert einer online ausgestellten AU-Bescheinigung entschieden. Das Landesarbeitsgericht (LAG) Köln musste den Beweiswert einer AU-Bescheinigung im Rahmen einer Verdachtskündigung gegenüber dem Augenschein und der Schlussfolgerung des Arbeitgebers abwägen.
II. BAG: Geringer Beweiswert von „passgenauen“ AU-Bescheinigungen
Die vorliegende Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 8. September 2021 führte zur Abwechslung einmal zur Freude auf der Seite der Arbeitgebenden, denn die grundsätzlich kaum zu überwindenden Hürden der Beweiskraft einer AU-Bescheinigung wurden für den konkreten Fall praxisgerecht verringert. Das BAG hatte zu entscheiden, ob eine AU-Bescheinigung, welche genau ab dem Tag der Kündigung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist die Arbeitsunfähigkeit bescheinigte, in ihrem Beweiswert grundsätzlich erschüttert ist. Die Arbeitnehmerin hatte das Arbeitsverhältnis am 8. Februar 2019 mit Wirkung zum 22. Februar 2019 gekündigt und legte der Arbeitgeberin sodann eine AU-Bescheinigung mit dem Datum vom 8. Februar 2019 vor. Die Arbeitsunfähigkeit wurde im vorliegenden Fall passgenau bis einschließlich zum 22. Februar 2019 bescheinigt. Daraufhin verweigerte die Arbeitgeberin die Entgeltfortzahlung bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses.
Die Arbeitgeberin führte an, dass der Beweiswert der AU-Bescheinigung erschüttert sei, weil diese exakt die Dauer der Restlaufzeit abdecke. Die klagende Arbeitnehmerin machte demgegenüber geltend, dass sie aufgrund eines Burnout ordnungsgemäß krankgeschrieben gewesen sei. Das Arbeitsgericht sowie das Landesarbeitsgericht hatten in den jeweiligen Vorinstanzen der Klage auf Entgeltfortzahlung stattgegeben.
Die Einschätzung der Vorinstanzen vermag aufgrund des besonderen Beweiswertes der AU-Bescheinigung nicht zu verwundern. Dies gilt insbesondere, da eine AU-Bescheinigung nur dann in ihrem Beweiswert erschüttert wird, wenn der Arbeitgeber ernsthafte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit darlegen kann. Erst sobald dies geschehen ist, ist der Arbeitnehmer verpflichtet, darzulegen und zu beweisen, dass er arbeitsunfähig war.
Das Bundesarbeitsgericht stellte fest, dass berechtigte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit bestehen können, wenn ein Arbeitnehmer sein Arbeitsverhältnis kündigt und anschließend noch am Tag der Kündigung bis zum Ende der Kündigungsfrist arbeitsunfähig krankgeschrieben wird. Insofern sehe das BAG den Beweiswert der AU-Bescheinigung als erschüttert an.
Aus diesem Grund war die Arbeitnehmerin gehalten, die Arbeitsunfähigkeit ihrerseits nachzuweisen. Der Beweis der Arbeitsunfähigkeit gelang der Arbeitnehmerin im Prozess allerdings nicht, worauf hin das BAG die Klage auf Entgeltfortzahlung abwies.
III. ArbG Berlin: Keine Entgeltfortzahlung bei Online-AU
Mit einer Klage auf Entgeltfortzahlung setzte sich auch das Arbeitsgericht Berlin in seinem Urteil vom 1. April 2021 auseinander. In dem vorliegenden Verfahren klagte der Arbeitnehmer einer Sicherheitsfirma auf die Zahlung von Entgeltfortzahlungslohn nach Einreichung einer AU-Bescheinigung, welche dieser sich über das Internetportal „www.au-schein.de“ hatte ausstellen lassen. Die Besonderheit dieses Falls lag insbesondere darin begründet, dass die AU-Bescheinigung ohne jeglichen persönlichen oder telefonischen Kontakt zu einem Arzt erfolgt war. Der Kläger hatte lediglich vorformulierte Fragen zu seiner Erkrankung auf der Internetplattform online beantwortet. In der Folge verweigerte der Arbeitgeber die Zahlung des Entgeltfortzahlungslohns.
Der Kläger machte geltend, dass er aufgrund der anhaltenden Corona-Pandemie und der damit einhergehenden Infektionsgefahr den Besuch bei seinem Hausarzt vermeiden wollte. Der beklagte Arbeitgeber stellte sich auf den Standpunkt, dass eine AU-Bescheinigung, welche ohne den persönlichen oder telefonischen Kontakt eines Arztes zustande gekommen sei, nicht denselben Beweiswert innehaben könne wie eine AU-Bescheinigung nach tatsächlicher ärztlicher Untersuchung.
Das Amtsgericht Berlin entschied zugunsten des Arbeitgebers, dass dieser nicht zur Lohnfortzahlung verpflichtet gewesen sei. Bei einer Online-Krankschreibung handele es sich gerade nicht um eine "ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung" im Sinne der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Dies ist insbesondere darin begründet, dass im Rahmen der Online-Krankschreibung kein Arzt mit dem Arbeitnehmer ein persönliches oder telefonisches Gespräch geführt habe und insbesondere auch keine ärztliche Untersuchung durchgeführt worden sei. Das Urteil verweist auch darauf, dass die Bestimmungen aufgrund der Corona-Pandemie und insbesondere die Möglichkeit der telefonischen Anamnese bei Erkältungssymptomen gerade zu keiner anderen Entscheidung führen kann. Vielmehr soll durch diese Sonderregelung zum Ausdruck kommen, dass zumindest ein telefonischer Kontakt zwischen Arzt und Patient erforderlich sei, um den erhöhten Beweiswert der AU-Bescheinigung zu bewirken.
IV. LAG Köln: Vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit trotz AU-Bescheinigung?
Dass Arbeitgebende den hohen Beweiswert einer AU-Bescheinigung trotz der vorangegangenen beiden Urteile weiterhin jedoch nicht unterschätzen sollten, zeigt die folgende Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Köln vom 10. Dezember 2021.
Im vorliegenden Sachverhalt hatte der Arbeitnehmer als Lagerist gearbeitet und war über einen längeren Zeitraum wegen Magen-Darm-Problemen, Unwohlsein sowie Ermüdung arbeitsunfähig. In diesem Zeitraum beobachtete der Arbeitgeber, wie der Arbeitnehmer das Lieferfahrzeug einer Pizzeria mit Speisen belud. Der Arbeitgeber kündigte das Arbeitsverhältnis in der Folge außerordentlich, fristlos.
In dem anschließenden Kündigungsschutzprozess machte der klagende Arbeitnehmer geltend, er habe dem Inhaber lediglich in der Wartezeit auf sein eigenes Essen einen Freundschaftsdienst geleistet. Zudem habe er sich zu dieser Zeit in psychotherapeutischer Behandlung aufgrund depressiver Zustände befunden. Der beklagte Arbeitgeber war seinerseits der Auffassung, der Mitarbeiter habe die Arbeitsunfähigkeit lediglich vorgetäuscht. Somit habe der Arbeitnehmer sich die Entgeltfortzahlung sowie die AU-Bescheinigung unrechtmäßig erschlichen. Zudem war der Arbeitgeber der Überzeugung, der Arbeitnehmer gehe in der Pizzeria einer unangemeldeten Nebentätigkeit nach, welche sich zumindest negativ auf den Genesungsprozess ausgewirkt habe.
Das LAG Köln entschied, dass der Sachverhalt den hohen Ansprüchen an eine außerordentliche sowie hilfsweise ordentliche Verdachtskündigung nicht gerecht werde. Nach Ansicht des LAG konnte der Arbeitgeber weder das Vortäuschen einer Arbeitsunfähigkeit noch das genesungswidrige Verhalten oder eine pflichtwidrige Nichtanzeige der Nebentätigkeit nachweisen. Zwar sei das Vortäuschen einer Arbeitsunfähigkeit grundsätzlich geeignet, einen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung darzustellen, allerdings müsse die Täuschung seitens des Arbeitgebers dargelegt und im Zweifel bewiesen werden können. Vorliegend sei es dem Arbeitgeber allerdings nicht gelungen, den Beweiswert der AU-Bescheinigung zu erschüttern. Er hätte vielmehr objektive Tatsachen vortragen müssen, die ausreichend Zweifel an der Richtigkeit des Attestes begründen könnten. Dafür sei die dargestellte Beobachtung des Ladevorgangs jedoch gerade nicht ausreichend.
Der einmalige Ladevorgang von kurzer Dauer allein sei auch für die Vorwürfe des genesungswidrigen Verhaltens und der unrechtmäßigen Nebentätigkeit nicht ausreichend.
V. Fazit und Praxishinweis
Die vorgestellten Entscheidungen zeigen, dass Arbeitgeber im Umgang mit AU-Bescheinigungen weiterhin vorsichtig vorgehen sollten, denn der Beweiswert einer ordnungsgemäß ausgestellten AU-Bescheinigung wird nach ständiger Rechtsprechung des BAG regelmäßig eine unüberwindbare Hürde darstellen. Dennoch lohnt es sich für Personaler:innen sowie Arbeitgebende, die aktuelle Rechtsprechung genau zu verfolgen.
Wie das Urteil des BAG vom 8. September 2021 zeigt, kann eine AU-Bescheinigung unter Umständen auch aufgrund von äußeren Begebenheiten angezweifelt werden. So ist insbesondere bei passgenauen AU-Bescheinigungen für die Dauer der Kündigungsfrist eine Erschütterung des Beweiswertes regelmäßig anzunehmen. Der Arbeitgeber ist insofern keineswegs dazu verpflichtet, die AU-Bescheinigung ohne weiteres hinzunehmen.
In der Sache richtig und angemessen erscheint auch die Unterscheidung des Arbeitsgerichts Berlin, wonach zu differenzieren ist, ob eine ärztliche Konsultation in tatsächlicher Hinsicht überhaupt stattgefunden hat. Richtigerweise wird darauf abgestellt, ob ein Arzt telefonischen oder persönlichen Kontakt zu dem Patienten hatte oder nicht. Dies ist insbesondere in Hinsicht auf die seit Jahren zunehmende Entwicklung hin zu bescheinigenden Onlineportalen eine begrüßenswerte rechtliche Einschätzung. Der Beweiswert eines ärztlichen Attestes kann nicht mit einem auf eigenverantwortlicher Selbstbeantwortung vorgegebener Fragen beruhenden Zertifikats gleichgestellt werden.
Schließlich zeigt die Entscheidung des LAG Köln vom 10. Dezember 2021 recht deutlich, dass eine ordnungsgemäß ergangene AU-Bescheinigung für Arbeitgeber regelmäßig zwingend zu beachten ist.
Bei arbeitsrechtlichen Maßnahmen sollten Arbeitgeber insofern Vorsicht walten lassen. Jedenfalls sollten Arbeitgeber vor dem Ausspruch einer Kündigung den entsprechend belastbaren Sachverhalt sorgsam zusammenbringen und sich vor Ausspruch der Kündigung fachkundigen Rat einholen.