I. Einleitung
Sind Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer länger als sechs Wochen innerhalb eines Jahres wiederholt oder am Stück arbeitsunfähig erkrankt, so sieht § 167 Abs. 2 SGB IX das sogenannte betriebliche Eingliederungsmanagement (bEM) vor. Im Rahmen des bEM soll eine Möglichkeit gefunden werden, wie das Arbeitsverhältnis möglichst sinnvoll fortgeführt werden kann. Dabei stehen die gesundheitliche Verfassung des Arbeitnehmers sowie die konkreten Einwirkungen des Arbeitsplatzes auf diese im Mittelpunkt des Verfahrens.
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat sich kürzlich in zwei Verfahren praxisrelevant zum bEM geäußert.
Zum einen stellte sich die Frage, ob Arbeitnehmer ein Verfahren, welches ausdrücklich der eigenen Gesundheit zuträglich sein soll, selbst gegenüber ihrem Arbeitgeber einfordern können. In seinem Urteil vom 7. September 2001, Az. 9 AZR 571/20, beschäftigte sich der neunte Senat des BAG daher mit der Frage, ob Arbeitnehmern ein Anspruch auf Einleitung und Durchführung eines bEM zusteht oder ob lediglich den in § 167 Abs. 2 Satz 7 SGB IX ausdrücklich benannten Vertretungsorganen ein solches Recht zukommt.
Zum anderen kommt dem bEM als Mittel zur Erforschung milderer Maßnahmen aber auch eine zentrale Bedeutung bei krankheitsbedingten Kündigungen zu. Denn obwohl die Durchführung eines bEM keine formale Wirksamkeitsvoraussetzung für eine krankheitsbedingte Kündigung ist, so stellt sie sich doch regelmäßig als faktische Notwendigkeit dar. Dies liegt in dem Zustand begründet, dass der Arbeitgeber im Kündigungsschutzprozess ohne vorheriges bEM nicht zu milderen Mitteln (bspw. die Versetzung auf einen leidensgerechten Arbeitsplatz) als der Beendigung des Arbeitsverhältnisses geführt hätte. In der Folge ist die Kündigung sodann regelmäßig unverhältnismäßig und unwirksam. In der Entscheidung vom 18. November 2021, Az. 2 AZR 138/21, stellte sich dem zweiten Senat des BAG daher die Frage, ob ein bEM auch dann nach erneuter Krankheit neuerlich durchzuführen ist, wenn in dem laufenden Jahr bereits ein solches durchgeführt wurde.
II. Das bEM-Verfahren
Das bEM aus § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX stellt einen verlaufs- und ergebnisoffenen Suchprozess dar, der nach Maßgabe der rechtlichen Regelungen individuelle Lösungsmöglichkeiten zur Vermeidung künftiger Arbeitsunfähigkeit aufzeigen soll. Dabei soll zum einen festgestellt werden, aufgrund welcher gesundheitlichen Einschränkungen die bisherigen Ausfallzeiten zustande gekommen sind und zum anderen unter Zuhilfenahme welcher Maßnahmen Ausfallzeiten verringert werden können, um eine Beendigung des Anstellungsverhältnisses zu vermeiden.
Das Gesetz gibt hier keinen bestimmten Ablauf vor, sodass die Implementierung eines konkreten Verfahrens in der Verantwortlichkeit des jeweiligen Arbeitgebers liegt. Allerdings ist aufgeführt, welche Stellen, Ämter und Personen zu beteiligen sind, sofern die betroffene Person dem Verfahren im Grundsatz sowie der Beteiligung im Einzelnen zustimmt. Dabei dürfen die vernünftigerweise in Betracht zu ziehenden Anpassungs- und Änderungsmöglichkeiten der gegenständlichen Arbeitsplatzsituation nicht ausgeschlossen und eingebrachte Vorschläge durch die Teilnehmer sachlich erörtert werden. Andernfalls genügt das bEM-Verfahren nicht den gesetzlichen Mindestanforderungen.
III. BAG-Entscheidung vom 07.09.2021
In der Entscheidung des BAG vom 7. September 2021 klagte ein Arbeitnehmer gegen seinen Arbeitgeber auf Einleitung und Durchführung des bEM. Der Kläger war mit einem Grad der Behinderung von 30 einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt und stand bereits seit über 20 Jahren in einem Arbeitsverhältnis zu der beklagten Gemeinde. Nachdem der Kläger im Jahr 2018 an 122 Arbeitstagen und im Jahr 2019 bis zum 25. August an 86 Arbeitstagen arbeitsunfähig erkrankt war, verlangte der Kläger die Durchführung des bEM.
Der Kläger stützte sich hierbei unmittelbar auf die gesetzliche Regelung des bEM sowie auf das Gebot der Rücksichtnahme als Nebenpflicht im Arbeitsverhältnis. Die beklagte Arbeitgeberin vertrat dagegen die Ansicht, dass Arbeitnehmern gerade kein Individualanspruch auf Durchführung des bEM zukomme.
Das BAG entschied vorliegend zugunsten der Arbeitgeberin. Arbeitnehmern kommt kein Anspruch auf Einleitung und Durchführung eines bEM zu. Dies ergebe die Auslegung der Vorschrift § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX. Demnach kann der Arbeitnehmer, auch wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm erfüllt sind, keinen Anspruch auf Durchführung daraus herleiten. Das BAG führt weiter aus, dass allerdings die zuständige Interessenvertretung – sowie beim schwerbehinderten Menschen außerdem die Schwerbehindertenvertretung – im Sinne der ihr obliegenden Verpflichtungen berechtigt sei, eine gebotene Klärung zu verlangen.
In der Folge sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer darauf angewiesen, dass sich die entsprechenden Vertretungsorgane für die Durchführung des bEM einsetzen. Ein eigener Anspruch kommt dem Arbeitnehmer selbst nicht zu.
IV. BAG-Entscheidung vom 18.11.2021
Im vorliegenden Fall des der BAG Entscheidung vom 18. November 2021 zugrundeliegenden Sachverhalts stand die Wirksamkeit einer ordentlichen, krankheitsbedingten Kündigung in Rede. Der Kläger war im Jahr 2017 an 40 Arbeitstagen, im Jahr 2018 an 61 Arbeitstagen und im Jahr 2019 an 103 Arbeitstagen arbeitsunfähig erkrankt. Am 5. März 2019 führten die Parteien ein Gespräch zur Durchführung eines bEM. Nach Abschluss des Gesprächs bis zum Ausspruch der Kündigung war der Kläger erneut an 79 Arbeitstagen arbeitsunfähig erkrankt. Gegen die Kündigung der Beklagten, welche mit Schreiben vom 26. Februar 2020 erfolgte, wendet sich der Kläger in diesem Rechtsstreit.
Fraglich war in diesem Verfahren insbesondere, ob die Beklagte aufgrund der neuerlichen Erkrankung nach Abschluss des ersten bEM-Gesprächs ein erneutes bEM vor dem Ausspruch der Kündigung hätte durchführen müssen.
Das Bundesarbeitsgericht entschied, dass die Kündigung der Beklagten unverhältnismäßig und damit sozial ungerechtfertigt war. Die Beklagte habe nicht dargetan, dass keine unzumutbare Möglichkeit bestand, die Kündigung durch mildere Maßnahmen zu vermeiden.
Insofern stellte das BAG klar, dass grundsätzlich ein neuerliches bEm durchzuführen ist, wenn der Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres nach Abschluss eines bEM erneut länger als sechs Wochen durchgängig oder wiederholt arbeitsunfähig erkrankt war, und zwar auch dann, wenn nach dem zuvor durchgeführten bEM nicht wieder ein ganzes Jahr vergangen ist.
Das BAG begründet die Entscheidung insbesondere mit dem Sinn und Zweck des bEM. Demnach sei eine geeignete Gesundheitsprävention des Arbeitnehmers zur dauerhaften Sicherung des Arbeitsverhältnisses maßgebliches Ziel des bEM.
Insofern sei es nur zweckmäßig, dass nach erneuter Überschreitung des sechswöchigen Zeitraums auch erneut eine Ursachenforschung betrieben werden.
Der Arbeitgeber kann sich somit nicht auf eine Mindesthaltbarkeit eines bereits durchgeführten bEM-Verfahrens berufen. Vielmehr gilt es die konkreten krankheitsbedingten Ausfallzeiten genau im Blick zu behalten.
Die richtige Implementierung des betrieblichen Eingliederungsmanagements im Unternehmen erfordert von Arbeitgebern und Personalern Fingerspitzengefühl. Nicht selten wird das Gesprächsangebot zum bEM von Arbeitnehmern als Vorstufe zur krankheitsbedingten Kündigung wahrgenommen. Dabei kommt dem bEM-Verfahren im Grunde genommen ein Fürsorgegedanke zu, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eine Perspektive im bestehenden Arbeitsverhältnis ermöglichen soll.
Im Ergebnis hat sich der Gesetzgeber allerdings gegen einen Anspruch des jeweiligen Arbeitnehmers entschieden. Insofern hat das BAG noch einmal deutlich gemacht, dass lediglich den einschlägigen Interessenvertretungen in dieser Frage eine Überwachungsfunktion zukommt. Der Arbeitnehmer kann eine Einladung zum bEM somit nicht erzwingen.
Sofern sich Arbeitgebende für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mittels Kündigungsausspruch entscheiden, sollte dringend auf die korrekte Einhaltung der gesetzlichen Mindestvorgaben im Rahmen des bEM-Verfahrens geachtet werden. Zwar kann kein bEM stattfinden, ohne dass der Arbeitnehmer diesem zustimmt, allerdings ist der Arbeitgeber – in der Folge der Klarstellung des BAG – nach jeder einzelnen Überschreitung des sechswöchigen Zeitraums krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit dazu angehalten, den Arbeitnehmer erneut zum bEM einzuladen.