Die deutsche Wegzugsteuer nach § 6 AStG ist einem laufenden Wandel unterzogen. Der Gesetzgeber und die Finanzverwaltung haben diesbezüglich in der jüngeren Vergangenheit Verschärfungen vorgenommen. Insbesondere internationale Unternehmerfamilien und gerade mittelständische Familienunternehmen sind von den Verschärfungen betroffen und dadurch in ihrer Mobilität eingeschränkt. Auch die Rechtsprechung muss sich stetig mit der Wegzugsbesteuerung beschäftigen. Der folgende Beitrag zeigt nicht nur die aktuellen Rechtsentwicklungen auf, sondern gibt Hinweise auf mögliche Vermeidungsstrategien.
I. Einleitung
Die Wegzugsteuer nach § 6 AStG wurde ursprünglich als Missbrauchsvermeidungsvorschrift eingeführt, um das deutsche Besteuerungsrecht an Anteilen an Kapitalgesellschaften zu sichern. Im Laufe der Jahre hat sie sich durch zahlreiche Gesetzesänderungen und die Internationalisierung des Steuerrechts zu einem wichtigen Thema in der Steuerberatung entwickelt. Mit der Neufassung des § 6 AStG, die am 01.01.2022 in Kraft trat, wurden erhebliche Verschärfungen eingeführt (unseren Beitrag aus 2021 zu den Gesetzesänderungen finden Sie hier). Ende 2023 trat eine neue Gesetzesänderung in Kraft, welche die Dauer der EU/EWR-Stundung für Wegzüge bis zum 31.12.2021 einschränkte. Zudem wurde Ende 2023 ein Anwendungserlass der Finanzverwaltung zum neuen AStG veröffentlicht. Im Januar 2024 folgte sodann das mit Spannung erwartete BFH-Urteil in der Rechtssache Wächtler, welches einige der jüngsten Gesetzesänderungen in Frage stellt.
II. Funktionsweise der Wegzugsbesteuerung nach § 6 AStG
Nach § 6 AStG unterliegen stille Reserven in Anteilen an Kapitalgesellschaften, z.B. an einer GmbH, die im Privatvermögen gehalten werden, einer Art „Schlussbesteuerung“, wenn das Besteuerungs-recht Deutschlands an diesen Anteilen eingeschränkt wird oder endet. Das ist typischerweise beim Wegzug des Anteilsinhabers aus Deutschland der Fall.
Eine Voraussetzung für die Wegzugsteuer ist, dass der Steuerpflichtige in den letzten zwölf Jahren mindestens sieben Jahre unbeschränkt steuerpflichtig in Deutschland war. Der § 6 AStG gilt für alle Anteile gemäß § 17 Abs. 1 EStG, einschließlich Beteiligungen an optierenden Personengesellschaften. Erfasst werden sowohl Anteile an inländischen als auch an ausländischen Kapitalgesellschaften, sofern der Steuerpflichtige in den letzten fünf Jahren vor dem steuerrelevanten Ereignis mindestens zu 1 % an diesen beteiligt war. Bei ausländischen Gesellschaften ist entscheidend, ob diese aus deutscher Sicht als Kapital- oder Personengesellschaft eingestuft werden. Ein abkommensrechtlicher Konflikt kann entstehen, wenn Deutschland die Gesellschaft als Kapitalgesellschaft betrachtet, während der Sitzstaat sie als steuerlich transparente Personengesellschaft einstuft. Solche Situationen können nicht selten insbesondere bei US-Gesellschaften entstehen.
Das steuerauslösende Ereignis ist in der Regel die Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht durch Wohnsitzaufgabe oder unentgeltliche Übertragung der Anteile auf Personen, die in Deutschland nicht der unbeschränkten Steuerpflicht unterliegen. Die Folge ist die Besteuerung eines fiktiven Veräußerungsgewinns, der sich aus dem gemeinen Wert der Anteile zum Zeitpunkt des Ereignisses abzüglich der Anschaffungskosten und eventueller Veräußerungskosten ergibt.
III. Gesetzgeberische Verschärfung für EU-/EWR Altfälle
War es in der Vergangenheit noch möglich bei einem Wegzug aus Deutschland in einen Mitgliedstaat der EU oder des EWR eine Stundung der Steuer in Gänze zu erhalten, wurden mit dem Gesetz zur Umsetzung der EU-Richtlinie 2022/2523 vom 21.12.2023 die Anforderungen an die dauerhafte Stundung der Wegzugsteuer nach § 6 AStG verschärft, insbesondere für EU-/EWR-Altfälle. Die Änderungen betreffen alle Wegzüge vor dem 01.01.2022 und zielen darauf ab, die Stundungsregeln für diese Fälle an die neuen Regelungen des ATAD-Umsetzungsgesetzes anzupassen.
Laut der neuen Regelung in § 21 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 AStG kann die Stundung der Wegzugsteuer für Altfälle (d.h. für Wegzüge vor dem 01.01.2022) widerrufen werden, wenn aus der betroffenen Gesellschaft, deren Anteile mit der Wegzugsteuer belastet wurden, Gewinnausschüttungen oder Einlagenrückgewähr erfolgen, deren gemeiner Wert mehr als ein Viertel des gemeinen Werts der Anteile zum Zeitpunkt des Wegzugs beträgt. Dieser Widerruf gilt gar rückwirkend für alle entsprechenden Zahlungen nach dem 16.08.2023. Es bleibt jedoch unklar, ob für die Bestimmung des maßgeblichen Zeitpunkts der Beschluss zur Gewinnverwendung oder die tatsächliche Auszahlung entscheidend ist. Es sprechen aber gute Argumente dafür, dass der Zeitpunkt des Gesellschafterbeschlusses der maßgebliche ist.
Überschreitet der Wert der Ausschüttungen diesen Grenzwert, wird die Stundung teilweise widerrufen, sodass die Steuer sofort teilweise fällig wird. Bei mehreren Ausschüttungen erfolgt ein sukzessiver Widerruf der Stundung.
Die Berechnung des Widerrufs erfolgt in zwei Schritten: Zuerst wird die Summe aller relevanten Gewinnausschüttungen und Einlagenrückgewähr nach dem 16.08.2023 ermittelt. Danach wird von dieser Summe ein Viertel der ungekürzten Bemessungsgrundlage der festgesetzten Wegzugsteuer abgezogen. Soweit sich daraus ein positiver Saldo ergibt, ist die Wegzugsteuer im Verhältnis dieses positiven Saldos zum gemeinen Wert der betreffenden Gesellschaftsanteile im Wegzugszeitpunkt sofort fällig.
Beispiel: Der Stpfl. ist im Jahr 2018 in das EU-Ausland weggezogen und hat die nach damaligem Recht geltende EU/EWR-Stundung gem. § 6 Abs. 5 AStG a.F. gewährt bekommen. Der gemeine Wert der betroffenen Gesellschaftsanteile im Wegzugszeitpunkt beträgt 100. Seit dem 17.08.2023 wurden in Bezug auf diese Gesellschaftsanteile Gewinnausschüttungen i.H.v. 40 vorgenommen.
Der zu ermittelnde positive Saldo aus den Gewinnausschüttungen abzüglich eines Viertels des gemeinen Werts der Gesellschaftsanteile beträgt 15 (40 ./. ¼ × 100). Folglich ist die Wegzugsteuer nach der neuen verschärften Gesetzeslage i.H.v. 15 % (15/100) sofort zur Zahlung fällig.
Es besteht eine Pflicht für den Steuerpflichtigen, dem zuständigen Finanzamt die erstmalige Überschreitung dieses Grenzwerts sowie jede darauf folgende Überschreitung jeweils innerhalb eines Monats mitzuteilen. Für alle künftigen Gewinnausschüttungen und die Einlagenrückgewähr betroffener Steuerpflichtige ist daher stets eine Proberechnung durchzuführen, ob der Grenzwert von 25 % des gemeinen Werts der betreffenden Gesellschaftsanteile im Wegzugszeitpunkt überschritten wird.
IV. Konkretisierungen der Finanzverwaltung
Der neue Anwendungserlass der Finanzverwaltung zum AStG vom 22.12.2023 ersetzt den alten Außensteuererlass des BMF vom 14.05.2004 und bringt umfassende neue Ausführungen zur Wegzugsteuer mit sich.
Insbesondere sind die Ausführungen zur sog. Rückkehrerreglung gem. § 6 Abs. 3 AStG hervorzuheben. Nach dieser Regelung entfällt die ausgelöste Wegzugsteuer bei Rückkehr innerhalb von sieben Jahren, sofern auch die weiteren Voraussetzungen erfüllt sind (u.a. keine Veräußerung oder gleichgestellte Vorgänge). Die Anwendung der Rückkehrerregelung setzt eine „vorübergehende Abwesenheit“ des Steuerpflichtigen voraus. Es gab zuvor einen Meinungsstreit zwischen der Finanzverwaltung und der Literatur darüber, wann eine Rückkehrabsicht des Steuerpflichtigen dargelegt werden muss und wie die Rückkehrabsicht glaubhaft gemacht werden kann. Der Bundesfinanzhof (BFH) hat jedoch klargestellt, dass es ausreichend ist, wenn der Steuerpflichtige innerhalb der gesetzlich festgelegten Frist tatsächlich nach Deutschland zurückkehrt. Nur wenn die vorübergehende Abwesenheit über sieben Jahre (bzw. fünf Jahre nach alter Regelung) hinaus um bis zu weitere fünf Jahre verlängert wird, muss die Rückkehrabsicht nachgewiesen werden. So heißt es im AEAStG 2023 unter Rn. 128: „Wenn keine Anhaltspunkte bestehen, die eine gegenteilige Wertung nahelegen, reicht die Erklärung des Stpfl. für die Annahme der Rückkehrabsicht aus.“
V. Das BFH-Urteil vom 06.09.2023 in der Rs. Wächtler
Im sogenannten „Wächtler-Verfahren“ (Az. I R 35/20) hat der BFH entschieden, dass die Wegzugsbesteuerung (§ 6 AStG) bei einem Wegzug in die Schweiz dauerhaft und zinslos gestundet werden kann, wobei diese Stundung von einer Sicherheitsleistung abhängig gemacht werden kann. Diese Entscheidung bezieht sich zwar auf das frühere Recht, ist jedoch auf die ab dem 1.1.2022 geltenden Regelungen übertragbar und gilt besonders für Wegzüge in EU- und EWR-Staaten, bei denen keine Sicherheitsleistung erforderlich ist.
Für Wegzüge vor dem 01.01.2022 in einen EU- oder EWR-Staat wurde die Wegzugsteuer unter bestimmten Bedingungen dauerhaft und zinslos gestundet (sog. Ewigkeitsstundung). Für die Schweiz galt dies gesetzlich nicht, und es war lediglich eine Ratenzahlung möglich.
Im Fall des Klägers Wächtler, der 2011 in die Schweiz verzog, legte das Finanzgericht Baden-Württemberg dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) Fragen zur Auslegung des Freizügigkeitsabkommens (FZA) vor, welches ähnliche Rechte wie die EU-Grundfreiheiten bietet. Der EuGH stellte fest, dass auch bei Wegzügen in die Schweiz eine dauerhafte, zinslose Stundung der Wegzugsteuer zu gewähren sei, jedoch unter der Bedingung einer Sicherheitsleistung aufgrund fehlender Vollstreckungshilfe.
In seiner Entscheidung wies der BFH die Klage gegen die Steuerfestsetzung ab, betonte jedoch, dass für Wächtlers Wegzug eine dauerhafte und zinslose Stundung bis zur tatsächlichen Veräußerung der Anteile angemessen ist. Dies steht im Widerspruch zu einer früheren Stellungnahme der Finanzverwaltung.
BFH-Entscheidungen haben in der Regel nur unmittelbare rechtliche Bedeutung für den Einzelfall, doch ihre rechtlichen Erwägungen im Wächtler-Urteil könnten auf ähnliche Fälle angewendet werden. Folgende Auswirkungen ergeben sich aus dem Urteil: Für Wegzüge vor dem 01.01.2022 in die Schweiz muss die Wegzugssteuer bis zur Veräußerung der Anteile zinslos gestundet werden. Die Stundung könnte jedoch von einer Sicherheitsleistung abhängig gemacht werden, was in praktischer Hinsicht problematisch sein kann. Bereits gezahlte Steuern sind rückwirkend zu erstatten.
Für Wegzüge vor dem 01.01.2022 in einen EU-/EWR-Staat wird nach dem Gesetz eigentlich aus-nahmsweise dann keine dauerhafte Stundung gewährt, wenn z.B. der Wegzügler im Ausland nicht einer der deutschen Einkommensteuer vergleichbaren Steuer unterliegt. Insoweit kann bzw. muss die EuGH- wie BFH-Entscheidung nur so verstanden werden, dass auch in diesen Fällen eine dauerhafte, zinslose Stundung europarechtlich geboten ist.
Ab dem 01.01.2022 sieht die reformierte Regelung lediglich eine Ratenzahlung über sieben Jahre vor, die in der Regel eine Sicherheitsleistung erfordert. Eine Ungleichbehandlung von ins (EU-)Ausland ziehenden Steuerpflichtigen im Vergleich zu Umzügen innerhalb Deutschlands bleibt bestehen. Im Sinne einer unionsrechtskonformen Regelung müsste der Gesetzgeber die dauerhafte, zinslose Stundung für Wegzüge in EU-/EWR-Staaten wiedereinführen und diese auch auf die Schweiz erstrecken. Bis zu einer (nicht absehbaren) Gesetzesänderung müssen Steuerpflichtige möglicherweise ihre Ansprüche auf dem Rechtsweg durchsetzen.
VI. Gestaltungsmöglichkeit
Um die oben beschriebenen Problematiken der Wegzugsbesteuerung zu vermeiden, bieten sich verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten an. Eine davon ist die Einlage einer Kapitalgesellschaftsbeteiligung in das Betriebsvermögen einer Personengesellschaft. Bei dieser Gestaltungsvariante ist darauf zu achten, dass es sich um eine originär gewerblich tätige Personengesellschaft handelt, bei der die Anteile an der Kapitalgesellschaft dem Geschäftszweck der Personengesellschaft funktional zuzurechnen sein müssen. Die Personengesellschaft vermittelt dem nunmehr nach dem Wegzug ausländischen Mitunternehmer eine inländische Betriebsstätte, sodass eine Entstrickungsbesteue-rung nach § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG vermieden wird. Eine gewerblich geprägte Personengesellschaft (GmbH & Co. KG) reicht für die Begründung einer inländischen Betriebsstätte nicht aus. Es käme in einem solchen Fall bei Wegzug zu einer Entstrickungsbesteuerung. Bei der Ausgestaltung der gewerblich tätigen, inländischen Personengesellschaft ist zudem auf die ausreichende Ausstattung mit „Substanz“ zu achten. In der Regel sollte für die Substanz einer Betriebsstätte die Anmietung von Büroräumlichkeiten mitsamt technischer Infrastruktur im Inland durch die Personengesellschaft und die Anstellung von Mitarbeitern, welche für die Personengesellschaft in diesen tätig werden, ausreichend sein.
VII. Zusammenfassung
Die deutsche Wegzugsbesteuerung gem. § 6 AStG ist infolge mehrerer Gesetzesänderungen in den vergangenen Jahren erheblich verschärft worden. In vielen Fällen kommt es zu einer Übermaßbesteuerung, die unseres Erachtens nicht mit dem Unionsrecht zu vereinbaren ist. Die Entscheidung des BFH vom 06.09.2023 in der Rechtssache Wächtler geht daher in die richtige Richtung, da sie den offenkundig rein fiskalisch motivierten Ausweitungen der deutschen Wegzugsteuer in jüngster Zeit Grenzen setzt. Betroffene Wegzügler sollten darüber nachdenken, ob und in welchen Fällen der Rechtsweg bestritten werden soll. Mandantinnen und Mandanten, die beabsichtigen in nächster Zeit aus Deutschland wegzuziehen, sollten vorab überlegen, inwieweit sie von der Wegzugsbesteuerung betroffen sind und welche geeignete Vermeidungsstrategien bestehen.
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