Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in seinem aktuellen Urteil vom 24.11.2022 (2 AZR 11/22) entschieden, dass die Anwendung des Kündigungsschutzes nach § 17 I 1 Nr. 1 MuSchG nicht lediglich 266 Tage vor dem voraussichtlichen Entbindungstermin beginnt. Dies hatte zuletzt das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg unter Berücksichtigung von Wahrscheinlichkeitserwägungen angenommen und darauf verwiesen, dass bei einem typischen Schwangerschaftsverlauf die Schwangerschaft regelmäßig nicht mit dem ersten Tag des Zyklus beginne. Die Frage der Rückrechnungsmethode kann für Schwangere im Kündigungsschutzprozess von entscheidender Bedeutung sein, da § 17 I 1 Nr.1 MuSchG normiert, dass einer Frau im Zeitpunkt des Bestehens einer Schwangerschaft nicht gekündigt werden darf.
I. Sachverhalt und Hintergründe
Das BAG entschied vorliegend über den Fall einer Arbeitnehmerin, die gegen die ihr gegenüber ausgesprochene Kündigung unter Berufung eines Verstoßes gegen § 17 I 1 Nr. 1 MuSchG Kündigungsschutzklage erhoben hatte.
Der beklagte Arbeitgeber kündigte das Arbeitsverhältnis fristgerecht mit Schreiben vom 06.11.2020, welches der Arbeitnehmerin am Folgetag zuging. Dagegen erhob die Arbeitnehmerin fristgerecht Kündigungsschutzklage mit der Begründung, im Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs schwanger gewesen zu sein. Kenntnis von der Schwangerschaft erhielt sie selbst aber erst am 26.11.2020. Unter dem Gesichtspunkt des Verstoßes gegen § 17 I 1 Nr. 1 MuSchG hielt sie die Kündigung für unwirksam.
Für die Frage, ob die Kündigung gegen den Sonderkündigungsschutz nach dem Mutterschutzgesetz verstieß, kommt es entscheidend auf das Bestehen der Schwangerschaft zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs an. Im Mutterschutzgesetzfehlt es allerdings an einer zeitlichen Angabe hinsichtlich eines Beginns der Anwendung der Kündigungsschutzvorschriften. In ständiger Rechtsprechung hat das BAG eine Rechenmethode aufgestellt, nach welcher ab dem ärztlich festgestellten voraussichtlichen Entbindungstermin bezüglich des Beginns des Kündigungsverbots 280 Tage zurückgerechnet werden.
Das zuständige Arbeitsgericht und auch das LAG Baden-Württemberg verraten jedoch die Auffassung, dass diese Methode zu Ergebnissen führe, die mit typischen Schwangerschaftsverläufen nicht in Einklang zu bringen seien. Deshalb legten sie bei der Berechnung eine Rückrechnung von nur 266 Tagen zugrunde. Sie rechneten den Schwangerschaftsbeginn ab dem voraussichtlichen Entbindungstermin am 05.08.2021 auf den 12.11.2020 zurück und sahen die Kündigung damit als wirksam an. Bei einer Rückrechnung um 280 Tage fällt der Beginn der Schwangerschaft dagegen auf den 29.10.2020, womit die Schwangerschaft zum Zeitpunkt der Kündigung schon bestand und die Kündigung entsprechend unwirksam gewesen wäre.
Das BAG hatte sich daher im Folgenden erneut mit der Richtigkeit der eigenen Rückrechnungsmethode auseinanderzusetzen.
II. Voraussetzungen des § 17 I 1 Nr. 1 MuSchG
Gemäß § 17 I 1 Nr. 1 MuSchG muss für die Geltung des Sonderkündigungsschutzes zum Zeitpunkt der Kündigung eine Schwangerschaft bestanden haben. Des Weiteren muss dem Arbeitgeber die Schwangerschaft innerhalb von zwei Wochen ab Kenntnis mitgeteilt werden.
Im gegebenen Fall unterrichtete die Klägerin nach Kenntniserlangung am 26.11.2020 ihren Arbeitgeber unverzüglich, also ohne schuldhaftes Zögern.
Fraglich bleibt dennoch, ob zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung am 07.11.2020 bereits eine Schwangerschaft bestand oder eben (noch) nicht.
III. Berechnungsmethode des LAG Baden-Württemberg: Rückrechnung um 266 Tage
Nach Ansicht des LAG Baden-Württemberg könne die Rückrechnung der Schwangerschaft lediglich über einen Anscheinsbeweis hergeleitet werden, solange sich dieser im Rahmen von typischen Schwangerschaftsabläufen befinde. Maßgeblich für den Kündigungsschutz könne nur sein, wann die Befruchtung tatsächlich stattgefunden habe. Die Befruchtung der Eizelle erfolge durchschnittlich aber erst am 12. oder 13. Zyklustag, weshalb nur eine Rückrechnung vom voraussichtlichen Entbindungstag um 266 Tage stattfinden könne. Ein Anscheinsbeweis könne nur für Regelverläufe greifen. Dass eine Schwangerschaft schon früher vorgelegen habe, sei extrem unwahrscheinlich, beziehungsweise praktisch ausgeschlossen. Deshalb habe eine Rückrechnung von 280 Tagen zur Folge, dass einer zunächst wirksamen Kündigung durch den zeitlich später liegenden tatsächlichen Schwangerschaftsbeginn nachträglich die Wirkung genommen würde.
IV. Berechnungsmethode des BAG: Rückrechnung um 280 Tage
Nach dem Rechenmodell des BAG sind vom ärztlich festgestellten voraussichtlichen Entbindungstermin 280 Tage zurückzurechnen. Dieser Zeitraum umfasse die mittlere Schwangerschaftsdauer, die bei einem durchschnittlichen Menstruationszyklus zehn Monate zu je 28 Tagen – gerechnet vom ersten Tag der letzten Regelblutung an – betrage. Er markiere die äußerste zeitliche Grenze, innerhalb derer bei normalem Zyklus eine Schwangerschaft vorliegen kann. Damit werden auch Tage in den Kündigungsschutz mit einbezogen, in denen das Vorliegen einer Schwangerschaft eher unwahrscheinlich ist, da eine Befruchtung der Eizelle erst nach dem Eisprung möglich ist, dieser aber durchschnittlich am 12. oder 13. Zyklustag angenommen wird. Da es sich dennoch um eine Wahrscheinlichkeitsrechnung handele, müssten zum Schutz der Arbeitnehmerinnen alle Wahrscheinlichkeiten zugunsten der Arbeitnehmerinnen in den Schutzzeitraum einbezogen werden. Dies folge schon aus dem verfassungsrechtlich gebotenen Schutzauftrag.
V. Mutterschutz unter EU-Gesichtspunkten
Der nationale gesetzliche Mutterschutz ist zudem stark europarechtlich geprägt. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshof der europäischen Union solle das in Art. 10 Nr. 1 Mutterschutzrichtlinie vorgesehene Kündigungsverbot verhindern, dass sich eine Kündigung aus Gründen, die mit der Schwangerschaft einer Arbeitnehmerin in Verbindung steht, schädlich auf ihre physische und psychische Verfassung auswirkt. Aus diesem Grund sei es offensichtlich, dass vom frühestmöglichen Zeitpunkt des Vorliegens einer Schwangerschaft auszugehen ist, um die Sicherheit und den Schutz von schwangeren Arbeitnehmerinnen zu gewährleisten. Auch in früheren Urteilen im Zusammenhang mit den gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über die Gleichheit von Männern und Frauen bezüglich der Rechte von schwangeren Frauen wurde bereits betont, dass mit den Vorschriften das Ziel verfolgt werde, Arbeitnehmerinnen vor und nach der Entbindung zu schützen. Aus Art. 2 a der Richtlinie 92/85 EWG des Rates vom 19.10.1992 ergibt sich zudem, dass eine ausdrückliche Definition des Begriffes "Schwangerschaft" fehlt. Diese Auslegung bleibt somit den Mitgliedsstaaten überlassen.
VI. Aufrechterhaltung der ständigen Rechtsprechung des BAG
Die Aufrechterhaltung der bisherigen Rechtsprechung des BAG folgt aus mehreren Gesichtspunkten. Zum einen hat der Gesetzgeber bei der Neufassung des Mutterschutzgesetzes im Jahr 2017 von einer Regelung über einen konkreten Beginn des Kündigungsverbots abgesehen, eine explizite Berechnungsmethode wurde nicht normiert. Auch im Unionsrecht ist der Zeitpunkt für den Beginn des Kündigungsverbots nicht näher definiert, da es schon an einer genauen begrifflichen Terminologie für das Wort "Schwangerschaft" mangelt. Der Kündigungsschutz stützt sich allerdings auf eine Auslegung des Begriffes, welche im Ergebnis den Mitgliedstaaten selbst obliegt. Zudem steht bei der Anwendung des Kündigungsschutzes der Schutz der werdenden Mutter und auch des Kindes im Vordergrund, weshalb die Berechnungsmethode, vor allem da es sich bei dieser um eine Wahrscheinlichkeitsrechnung handelt, zu ihren Gunsten angewendet werden muss. Für das Vorliegen der Schwangerschaft trifft zunächst die Arbeitnehmerin die Darlegungs- und Beweislast, sodass die Interessen des Arbeitgebers angemessen berücksichtigt werden. Aus diesen Gründen scheint es aus Sicht des BAG daher insgesamt gerechtfertigt, die Rückrechnung auf einen Zeitraum von 280 Tagen zu erstrecken.
VII. Fazit
Für das BAG überwiegt damit der Schutz der Schwangeren deutlich gegenüber der Rechtssicherheit der arbeitgeberseitigen Kündigung. Dies schafft für Arbeitgeber eine nicht zu vernachlässigende Unsicherheit im Kündigungsverfahren, die insbesondere vor dem naturwissenschaftlich und wahrscheinlichkeitstheoretisch nachvollziehbaren Ansatz des LAG vermeidbar gewesen wäre. In Anbetracht der schwerwiegenden Folgen der Berechnungsmethode des LAG für eine atypische Schwangerschaft, die sodann nicht unter den Sonderkündigungsschutz fiele, dürfte dies im Ergebnis allerdings vorzugswürdig sein.
Wir danken unserer wissenschaftlichen Mitarbeiterin Paula Nöhlen für die tatkräftige Unterstützung zu diesem Beitrag.