Erkrankt ein Arbeitnehmer arbeitsunfähig, ist der Arbeitgeber grundsätzlich verpflichtet, das Arbeitsentgelt weiterhin an den Arbeitnehmer zu zahlen. Der Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall steht dem Arbeitnehmer jedoch nur zu, wenn er tatsächlich arbeitsunfähig ist. Gelingt es dem Arbeitnehmer nicht, seine Arbeitsunfähigkeit glaubhaft darzulegen, kann der Arbeitgeber die Entgeltfortzahlung verweigern. Bereits gezahlte Beträge können zurückverlangt werden.
Der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AUB) wird ein hoher Beweiswert beigemessen, der jedoch durch verschiedene Indizien erschüttert werden kann. Meldet sich ein Arbeitnehmer beispielsweise unmittelbar nach einer ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses passgenau bis zum Ende der Kündigungsfrist krank, kann der Arbeitgeber regelmäßig berechtigte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit anmelden.
Unter welchen Voraussetzungen die Pflicht des Arbeitgebers zur Entgeltfortzahlung trotz Vorlage einer AUB entfallen kann und welche Beweislastregeln dabei vor den Arbeitsgerichten gelten, zeigt ein aktuelles Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg (Sa 1266/23) vom 5. Juli 2024.
I. Sachverhalt
Der Kläger war bei der Beklagten als Produktionsleiter angestellt. Die Beklagte sprach dem Kläger am 26.Oktober mündlich –und somit zunächst formell unwirksam – die Kündigung aus. Am folgenden Tag meldete sich der Arbeitnehmer krank und legte eine AUB für die Zeit bis zum 10. November vor. Mit Schreiben vom 28.Oktober, welches dem Kläger am selben Tag zuging, kündigte die Beklagte das Anstellungsverhältnis ordentlich zum 30. November. Am 9. November. reichte der Arbeitnehmer eine Folgebescheinigung über seine Arbeitsunfähigkeit bis zum 30. November ein.
In diesem Zeitraum nahm der Kläger am 12. November aktiv als Spieler an einem Handballspiel teil. Eine Woche später, am 19. November folgte eine weitere aktive Teilnahme an einem Handballspiel, dieses Mal als Schiedsrichter. Die Beklagte erlangte Kenntnis von diesen Aktivitäten.
Gegen die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses wehrte sich der Kläger im Wege der Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht Cottbus (Urteil vom 16. November 2023 – 1 Ca 1125/22). In dem Prozess machte die Beklagte widerklagend die Rückzahlung der für Oktober und November geleisteten Entgeltfortzahlung geltend. Das Arbeitsgericht hielt jedoch den Beweiswert der AUB für nicht erschüttert und die Arbeitsunfähigkeit des Klägers somit für erwiesen. Daher wies das Gericht die Widerklage ab. Gegen dieses Urteil legte die Beklagte Berufung ein.
Das Landesarbeitsgericht teilte die Auffassung der Beklagten (und Berufungsklägerin) und verurteilte den Kläger (und Berufungsbeklagten) zur Rückzahlung der Entgeltfortzahlung. Die 12. Kammer hielt den Beweiswert der Atteste durch den Vortrag der Beklagten für erschüttert. Der Kläger hätte das Gericht daher davon überzeugen müssen, dass er tatsächlich nicht arbeitsfähig war. Zu den Einzelheiten seiner Erkrankung trug der Kläger jedoch nicht vor, sodass die Behauptung der Beklagten, der Kläger sei unentschuldigt der Arbeit ferngeblieben, für das Gericht als zugestanden galt.
II. Regeln der Darlegungs- und Beweislast bei der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall
Nach dem allgemeinen Grundsatz der Darlegungs- und Beweislastregeln hat jede Partei die für sie günstigen Tatsachen zu beweisen. Abweichend davon kann auch die jeweils gegnerische Partei verpflichtet sein, zu bestimmten Tatsachen vorzutragen. Diese sekundäre Darlegungs- und Beweislast greift ein, wenn die beweisbelastete Partei auf für sie nur schwer zugängliche Informationen angewiesen ist, über die nur der Prozessgegner verfügt. Im Zusammenhang mit Streitigkeiten über die Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers ist dies häufig der Fall. Denn es ist diesen Sachverhalten immanent, dass der Arbeitgeber in aller Regel selbst weder beurteilen noch beweisen kann, ob der Arbeitnehmer tatsächlich arbeitsunfähig erkrankt ist oder nicht.
Die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung genügt in der Regel als Beleg für die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit, da ihr aufgrund von § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG ein hoher Beweiswert zugesprochen wird. Zweifelt der Arbeitgeber dennoch an der Arbeitsunfähigkeit, muss er konkrete Umstände darlegen, auf denen diese Zweifel beruhen, um den Beweiswert zu erschüttern.
Der Arbeitnehmer ist dann verpflichtet genau zu erläutern, welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen vorlagen und wie diese seine Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt haben. Er muss für den gesamten Zeitraum der Entgeltfortzahlung konkret schildern, welche physischen oder psychischen Einschränkungen bestanden. Fehlen diese Angaben oder bleibt der Arbeitnehmer zu vage, gilt die Behauptung des Arbeitgebers, der Arbeitnehmer sei nicht krankheitsbedingt arbeitsunfähig gewesen, als zugestanden. Dann fehlt es am Rechtsgrund für die Entgeltfortzahlung, sodass der Arbeitgeber die Beträge zurückfordern kann.
III. Indizien zur Erschütterung des Beweiswertes
Unterschiedliche Indizien sind dazu geeignet, den Beweiswert einer AUB zu erschüttern. In dem Urteil des LAG Berlin-Brandenburg wurden die passgenauen Krankschreibungen bei der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses, die Missachtung der Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AU-RL) des Gemeinsamen Bundesausschusses sowie beobachtete Freizeit- oder Sportaktivitäten des Arbeitnehmers von der Beklagten vorgetragen.
1. Passgenaue Krankschreibung
Ein häufiges Indiz für die Erschütterung des Beweiswertes ist eine Krankschreibung, die den genauen Zeitraum der Kündigungsfrist abdeckt. Dies gilt unabhängig davon, ob die Kündigung vom Arbeitnehmer oder Arbeitgeber ausgesprochen wurde. Eine passgenaue AUB erweckt den Verdacht, dass die Bescheinigung strategisch zur Vermeidung von Arbeitspflichten ausgestellt wurde. Ein solches Muster stellt ein starkes Indiz gegen die tatsächliche Arbeitsunfähigkeit dar. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Zeitraum von nur einer AUB oder durch mehrere Bescheinigungen abgedeckt wird.
2. Missachtung der AU-Richtlinie
Auch die Missachtung der AU-Richtlinie kann Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit begründen. Insbesondere soll die voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit nicht für einen mehr als zwei Wochen im Voraus liegenden Zeitraum bescheinigt werden (vgl. § 5 Abs. 4 AU-RL). Wird eine AUB für einen längeren Zeitraum ausgestellt, obwohl die Richtlinie maximal 2 Wochen vorsieht, kann dies den Beweiswert des Attests erheblich mindern und Zweifel an dem Wahrheitsgehalt der Bescheinigung begründen.
Diese Folge gilt auch für andere Vorgaben der AU-RL. So sieht § 5 Abs. 1 S. 4 der AU-RL vor, dass attestierte Symptome (z.B. Fieber, Übelkeit) nach spätestens sieben Tagen durch eine Diagnose oder Verdachtsdiagnose ersetzt werden müssen.
3. Freizeit- oder Sportaktivitäten
Auch beobachtete Freizeit- oder Sportaktivitäten können den Beweiswert eines Attests in Frage stellen, wobei hier die Umstände des Einzelfalls besonders zu berücksichtigen sind. Grundsätzlich begründen solche Aktivitäten allein noch keine erschütternden Zweifel, insbesondere bei moderater Freizeitgestaltung. Anders ist dies jedoch, wenn der Arbeitnehmer wettkampfmäßig Sport betreibt, der eine robuste körperliche Verfassung voraussetzt, was mit der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit nicht vereinbar scheint. In solchen Fällen muss der Arbeitnehmer darlegen, warum seine Aktivitäten trotz attestierter Arbeitsunfähigkeit gerechtfertigt sein sollen.
IV. Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg
Das LAG entschied bei seinem aktuellen Urteil, dass der Kläger seiner Darlegungspflicht nicht ausreichend nachgekommen ist. Das Urteil fiel daher zugunsten der Beklagten aus. Das beklagte Unternehmen hatte verschiedene Tatsachen vorgetragen, die aus Sicht des LAG Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit des Klägers begründeten. In der Gesamtbetrachtung hielt das Gericht daher den Beweiswert der vom Kläger vorgelegten AUBs für erschüttert. Dadurch lag die volle Beweislast beim Kläger, der sich zu den Umständen seiner Erkrankung nicht geäußert hat.
Der Kläger legte zwei AUBs vor, die den Zeitraum zwischen seiner Kenntnis von der Kündigung am 26. Oktober und dem letzten Tag der Kündigungsfrist am 30. November exakt abdeckten („passgenau“). Zudem wurde die Folgebescheinigung für 20 Tage ausgestellt und überschritt somit den von der AU-RL vorgesehenen Zeitraum von 14 Tagen um sieben weitere Tage. Schließlich wurde der Kläger zweimal bei körperlich fordernden Freizeitaktivitäten gesehen, deren Vereinbarkeit mit seiner Erkrankung er hätte darlegen müssen. Insbesondere durch das kumulative Vorliegen mehrerer Indizien konnte die Beklagte das Gericht von den erheblichen Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit des Klägers überzeugen und den Beweiswert der vorgelegten AUBs somit erschüttern.
V. Fazit
Das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 5. Juli 2024 verdeutlicht, dass die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall an strenge Darlegungs- und Beweislastregeln geknüpft ist. Allein die Vorlage einer AUB reicht bei begründeten und konkreten Zweifeln nicht aus, die Arbeitsunfähigkeit nachzuweisen.
Arbeitnehmer müssen die Einzelheiten der Arbeitsunfähigkeit grundsätzlich nicht gegenüber ihrem Arbeitgeber offenlegen. Der hohe Beweiswert der AUB führt jedoch nicht dazu, dass der Arbeitgeber die Entgeltfortzahlung in jedem Fall gewähren muss. Ergeben sich berechtigte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit, muss der Arbeitnehmer unter Umständen detailliert seine psychische oder physische Erkrankung vor Gericht darlegen. Da der Arbeitgeber keine Möglichkeit hat, selbst die Arbeitsunfähigkeit festzustellen, ist es angemessen, den Arbeitnehmer dabei in die Pflicht zu nehmen. Denn durch den Anspruch auf Entgeltfortzahlung für einen Zeitraum von bis zu sechs Wochen wird dem Arbeitnehmer ermöglicht, im Krankheitsfall der Arbeit fernzubleiben, ohne in finanzielle Schwierigkeiten zu geraten. Da durch die Entgeltfortzahlung und den Ausfall des Arbeitnehmers erhebliche Kosten entstehen können, muss der Arbeitgeber vor der unberechtigten Inanspruchnahme geschützt werden.
Das Urteil zeigt erneut, dass die Geltendmachung von konkreten Zweifeln an einer Arbeitsunfähigkeit auch dann nicht aussichtslos ist, wenn sie ärztlich bescheinigt wurde. Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung in der Rechtsprechung der Arbeitsgerichte empfiehlt es sich, dass alle Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber einen entsprechenden internen Prozess festlegen und nachhaltig verfolgen, damit sich „Blaumachen“ nicht als unternehmensinterner Volkssport etabliert.
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